Los-Lassen oder die Mönchszelle

Vor kurzem durfte ich Menschen in den Tod begleiten und ihnen helfen, sich darauf vorzubereiten. Der tibetische Buddhismus empfiehlt, sich vor dem Sterben von allem zu befreien, was einen an die diesseitige Welt bindet. Auch von jeglichem Besitz. Die Dinge verteilen, verschenken, verbrennen, sodass die Seele nicht mehr haftet und frei in die geistige Welt aufsteigen kann.

Dies ist nicht nur angesichts des Todes wichtig, sondern auch im Leben, denn man muss das ganze Leben lang sterben lernen – wie Seneca meint. Sterben ist so alltäglich wie leben, heute allerdings dramatisieren wir den Tod, verdrängen ihn und leben deshalb nur halbherzig. Wir lehnen uns gegen Naturgesetze und natürliche Lebens- und Alterungsprozesse auf. Die Stoiker der Antike hingegen gaben sich voll und ganz dem Leben hin und ihre Philosophie lehrte, alle Wendungen des Daseins zu akzeptieren und jedes auch noch so schmerzliche Ereignis friedvoll anzunehmen.

Vertrauen ist die Voraussetzung für das Loslassen. Dazu eine alte Sufigeschichte: Ein frisch verheiratetes Paar fährt mit einem Boot über einen See. Es kommt ein schlimmes Unwetter auf. Die Frau hat große Furcht, doch der Mann bleibt ruhig und gelassen. „Wie kannst du nur so ruhig bleiben, kennst du keine Furcht, wir werden beide ertrinken, nur ein Wunder kann uns noch retten, der Tod ist uns sicher, hast du gar keine Angst?“ Der Mann, der ein Krieger war, zieht daraufhin sein Schwert aus der Scheide und hält die Klinge ganz dicht an den Hals seiner Frau. „Hast du Angst?“ Sie kichert und antwortet: „Warum sollte ich Angst haben, weiß ich doch das Schwert in deinen Händen, der du mich liebst?“ Der Krieger steckte sein Schwert wieder weg und sagt: „Das ist meine Antwort. Ich weiß, die Schöpfung liebt uns. Alles ist in ihrer Hand. Was auch immer passiert, es ist gut. Überleben wir, gut. Sterben wir, auch gut, denn alles ruht in der Hand des Seins.“

Die Voraussetzung für dieses unbedingte Gottvertrauen, ist eine tiefe Kenntnis der Naturgesetze und Einsicht in den Sinn des Lebens. Jedes Ereignis erscheint dann tatsächlich als Ausdruck des Willens der Allnatur, durch den sich Ursache und Wirkung verketten und das Schicksal bilden.

Los-lassen, sich fügen, dem Schicksal gehorchen – das ist eine wahrhaftig nützliche und sehr schwierige Übung der Lebenskunst. Meistens versuchen wir, alles genau nach unseren Vorstellungen zu gestalten und überall so viel wie möglich für uns selbst herauszuholen.

Wie sehr wir darin gefangen sind, zeigt die Erfahrung eines Suchenden, der einige Zeit im Kloster verbringen wollte, um zu sich zu finden:

Mir war eine Zelle zugewiesen worden – gleichzeitig mit einer Einladung zu Kaffee und Kuchen. Ich wollte jedoch nur in meiner Zelle bleiben, um möglichst schnell möglichst viel zu lernen, getreu eines alten Mönchspruchs: „Bleibe in deiner Zelle, und die Zelle wird dich alles lehren“. Ich dünkte mich nicht besonders anspruchsvoll, wollte nur Bett, Tisch, Stuhl, das reichte vollkommen. Nun, diese Zelle hatte alles – nur: sie hatte keine Atmosphäre. Vom Fenster aus konnte man parkende Autos sehen. Was sollte mich so eine Zelle lehren können?

Die Zelle nebenan war frei. War es Zufall? Ich ging hinüber, um die Aussicht zu testen, ging zurück, um zu vergleichen. Es gibt immer einen besseren Platz, eine bessere Aussicht, einen bequemeren Stuhl – im Restaurant, im Kino, selbst auf dem Berggipfel.

Das Fenster war breiter, aber der Tisch war nicht so vorteilhaft platziert – gut, den konnte man verrücken. Aber das Bett? Welches war bequemer? Ich ging zwischen den Zellen hin und her, wog Vor- und Nachteile ab. Mal stellte ich den Koffer in dieses Zimmer, dann in das andere. Mal war ich mir sicher, mal zweifelte ich. Schließlich ließ ich mich – gestresst von der Jagd nach Perfektion – auf ein Bett fallen und kam zu mir. (Aus Peter Seewalds Buch: „Die Schule der Mönche“)

Das Anhaften an vergänglichen Dingen schafft immer wieder neues negatives Karma, das uns im Rad der Wiedergeburten gefangen hält. Es lässt uns leiden, begehren, enttäuscht und wütend werden. Wir sind abhängig von Umständen, Menschen, dem Wetter. Wir wollen alles nach unseren Vorstellungen gestalten. Der Stoiker Epiktet lehrte jedoch: „Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es willst, sondern wolle, dass alles so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Frieden leben.“ Das ganze Leben ist eine Schule des Loslassens. Kleben wir an nichts und niemandem. Wir werden viel entspannter sein!

Damit Sie das Loslassen im Alltag trainieren können, schlage ich folgende Übungen vor:

1. Leben wir in der Gegenwart

Wie oft sind wir mit unseren Gedanken bei den negativen Erfahrungen der Vergangenheit. Immer wieder erinnern wir uns an Kränkungen, Beleidigungen und Verletzungen. Wie oft bangen wir angesichts der Ungewissheit der Zukunft. Lassen wir beides los. Nur die Gegenwart gehört uns ganz.

2. Nehmen wir das Erstbeste

Wenn ein Brötchenteller herumgereicht wird – nehmen wir das Erstbeste. Wenn wir in ein Restaurant Essen gehen, wählen wir so rasch wie möglich ein Gericht, das uns zusagt. Wenn wir einkaufen gehen, entscheiden wir uns schnell für das erstbeste passende Produkt. Seien wir zufrieden mit dem, was kommt.

3. Seien wir großzügig

So können wir zu Lebzeiten das Loslassen üben. Ein Freund erzählte mir von der türkischen Gastfreundschaft. Er lobte eine schöne Vase im Haus eines Bekannten in Ankara – worauf der Freund ihm diese Vase sofort schenkte. Strahlend vor Freude, geben zu können.

4. Verlieren wir gerne

Ihr Lieblingsschal ist im Bus liegen geblieben? Die schöne Kette, Erbstück der Großmutter, ist gerissen und viele Perlen sind in den Kanal gefallen? Der bequeme Pullover ist zerschlissen? Wunderbare Gelegenheiten, sterben zu lernen.

Wer etwas loslässt, hat zwei Hände frei!