Die Gelassenheit oder wozu ein Unglück gut ist

 „Ein alter Mann lebte zusammen mit seinem einzigen Sohn auf einer kleinen Farm. Sie besaßen nur ein Pferd, mit dem sie die Felder bestellen konnten und kamen gerade so über die Runden. Eines Tages lief das Pferd davon. Die Leute im Dorf kamen zu dem alten Mann und riefen „Oh, was für ein schreckliches Unglück!“ Der alte Mann erwiderte aber mit ruhiger Stimme: „Wer weiß…, wer weiß schon, wozu es gut ist?“

Eine Woche später kam das Pferd zurück und führte eine ganze Herde wunderschöner Wildpferde mit auf die Koppel. Wieder kamen die Leute aus dem Dorf: „Was für ein unglaubliches Glück!“ Doch der alte Mann sagte wieder: „Wer weiß…, wer weiß schon, wozu es gut ist?“

In der nächsten Woche machte sich der Sohn daran, eines der wilden Pferde einzureiten. Er wurde aber abgeworfen und brach sich ein Bein. Nun musste der alte Mann die Feldarbeit allein bewältigen. Und die Leute aus dem Dorf sagten zu ihm: „Was für ein schlimmes Unglück!“ Die Antwort des alten Mannes war wieder: „Wer weiß…, wer weiß schon, wozu es gut ist?“

Dann brach ein Krieg mit dem Nachbarland aus. Die Soldaten der Armee kamen in das Dorf, um alle kriegsfähigen Männer einzuziehen. Alle jungen Männer des Dorfes mussten an die Front und viele von ihnen starben. Der Sohn des alten Mannes aber konnte mit seinem gebrochenen Bein zu Hause bleiben.“ (Aus Dan Millmann: Der Pfad des friedvollen Kriegers)

Viele der modernen Mitteleuropäer fühlen sich gestresst und einige leiden sogar unter Schlafstörungen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält Stress für eine der größten Gesundheitsgefahren unseres Jahrhunderts, denn er verursacht u.a. Depressionen, Herzerkrankungen, Asthma oder Diabetes. Viele Eltern beobachten bereits bei ihren Kindern Stresssymptome. Kein Wunder, dass man sich allenthalben nach Gelassenheit, Ruhe und Entspannung sehnt…

Was ist Gelassenheit?

Die Fähigkeit, besonders in schwierigen Situationen Ruhe und eine zentrierte Haltung zu bewahren und besonnen zu reagieren. Nach Aristoteles ist Gelassenheit die Mitte zwischen Trägheit und Aufgeregtheit. Wer gelassen ist, kann souverän, angstfrei und entspannt agieren und kommunizieren. Wer ge-lassen ist kann los-lassen.

Sokrates bezeichnete „Sophrosyne“ – besonnene Gelassenheit – als Haupttugend des Menschen und die Stoiker priesen die „Ataraxia“, die Gemütsruhe, als erstrebenswerte Haltung. „Upekkhā“ – Gleichmut – ist ein zentraler Begriff der buddhistischen Geistesschulung und hat die heilsame Kraft, Aufgeregtheit zu überwinden. Wie jede Tugend ist auch die Gelassenheit durch Übung und Beharrlichkeit erlernbar.

Ursachen mangelnder Gelassenheit

Der Verlust der „Contenance“ kommt selten aus heiterem Himmel. Meist ist er die Folge eines Prozesses, in dem sich Spannungen über längere Zeit aufgebaut haben. Die Ursache dafür liegt oft in der gedanklichen Grundhaltung. Negative Beurteilungen von Situationen lassen in uns unbewusst immer mehr Angst und Ärger entstehen. Wir reagieren stereotyp, hinterfragen unsere Einstellungen und Handlungsweisen nicht und geraten in eine teuflische Stressspirale. Wir sehen uns als Opfer der Lebensumstände. Die Ursachen für Probleme werden außerhalb von uns selbst gesucht, wir gehen entweder in die Offensive und werden aggressiv oder reagieren defensiv und fressen den Kummer und Ärger in uns hinein.

Die Lösung: Pro-aktiv statt re-aktiv

Wir müssen das Hamsterrad anhalten und verstehen: nur wir selbst sind für die Gestaltung unseres Lebens verantwortlich. Jean-Jacques Rousseau sagte: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“ Nach dem Grundsatz „Love it, change it or leave it“ können wir unsere Reaktionen immer pro-aktiv wählen. Wir können unser Bewusstsein erheben und unser Tun und Handeln von oben aus der „Adlerperspektive“ betrachten. Wenn wir innerlich ruhig und distanziert sind, treffen wir die besseren Entscheidungen, sind inspirierter und finden vielfältigere Lösungen. Wenn wir gelassen sind, sind wir uns unserer selbst bewusst und wissen, was wir können und was nicht.

Vier Tipps für mehr Gelassenheit

1. Tief durchatmen

Unser Atem gibt uns Leben. Tiefes Atmen erzeugt Ruhe, erdet uns. Deshalb: Was auch passiert – atmen wir immer erst einmal tief durch. Durch gezielt tiefes Atmen können wir Stress, Anspannung – ja sogar Angst regelrecht wegatmen. So unterbrechen wir den normalerweise unbewussten und automatischen Prozess, durch den wir immer verspannter und unruhiger werden und der Atem immer flacher geht.

2. Die richtigen Prioritäten setzen

Fragen wir uns: Wenn ich nur noch ein halbes Jahr zu leben hätte, was würde ich tun? Wie würde ich die letzten sechs Monate meines Lebens nützen? Welche Menschen und Tätigkeiten sind mir wirklich wichtig? Was gibt mir Sinn? Was würde ich weg-lassen?

Wir können jederzeit unsere Werte und Lebensprioritäten reflektieren. Und überprüfen, ob wir tatsächlich die richtigen Dinge machen oder nur die Dinge richtig machen.

Fragen wir uns: Arbeiten wir zu viel? Haben wir genug Freizeit? Haben wir Zeit für uns selbst, für sinnstiftende Tätigkeiten? Achten wir auf unsere Entspannung und Gesundheit?

3. Verantwortung übernehmen und abgeben

Für viele Dinge unseres Lebens tragen wir Verantwortung: für uns selbst und unseren Lebenssinn, die Gesundheit, für Menschen, diverse Pflichten usw. Wir sind verantwortlich für unsere Handlungen und Unterlassungen. Für andere Dinge sind wir nicht verantwortlich, fühlen uns aber verantwortlich. Dies ist ein großer Unterschied. Es gibt viele Dinge, die andere Menschen von uns erwarten, z.B. dass wir jeden Sonntag unsere Mutter besuchen. Wenn wir dies nicht tun, ist sie „sehr traurig“. Doch wir sind verantwortlich für die zeitgerechte Absage, nicht für die Gefühle unserer Mutter. Wenn wir es immer allen Menschen recht machen wollen, können wir kaum gelassen bleiben.

4. Nein sagen lernen

Es ist unehrlich, wenn wir nicht Nein sagen, obwohl wir Nein meinen. Wir dürfen nicht aus Mitleid oder Angst Ja sagen, dies bringt uns nur innerlich in Spannung. Damit wir gelassen bleiben, dürfen wir nur dann Ja sagen, wenn wir auch Ja meinen. In allen anderen Fällen antworten wir mutig mit „Nein“.

Abschließend möchte ich Ihnen das „Gelassenheitsgebet“ auf den Weg mitgeben:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,

und die Weisheit, das Eine vom Anderen zu unterscheiden.