
Eine schwungvolle und etwas fremdartige Melodie erklingt. Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals, Tränen schießen in die Augen. Ich bin zutiefst traurig. Den „Ungarischen Tanz“ aus dem Mittelalter hat mein Vater geliebt. Zu seinen Klängen hat er getanzt und freudig mitgesungen. Jetzt ist er tot.
Wieder einmal dieser „plötzliche Überfall“ von Traurigkeit. Ich beobachte, dass Trauern ein Wechselbad der Gefühle darstellt. In der allerersten Zeit nach meines Vaters Tod erlebte ich einen „Cocktail“ aus Wut, Sorge um meine Mutter, Traurigkeit, Ärger und manchmal Freude. Ein emotionales Durcheinander.
Als praktische Philosophin interessiert mich das und ich habe begonnen, das Phänomen Trauer zu erforschen. Außerdem hatte ich vor kurzem in meinem Brotberuf als pädagogische Fachberaterin eine Fortbildung zum Thema. Nun möchte ich meine Überlegungen mit Ihnen teilen.
Mein erster Kontakt mit einem schweren Verlust hatte ich als kleines Kind. Meine neugeborene Schwester Gunhild starb nach einem Monat an einem Herzfehler. Wir drei kleinen Mädchen (sechs, vier und zwei Jahre alt) gingen mit unseren Eltern auf den Friedhof, wo ein kleiner silberner Sarg mit Spitzenbesatz auf dem Grab stand. Mein Vater leitete ein Ritual und wir warfen Blumen und Erde auf den Sarg. Besonders beeindruckte mich, dass wir alle gemeinsam weinten. Es war schwer, wir waren unglücklich und traurig. Doch ich bin dankbar, dass meinen Eltern uns das zugemutet haben.
Im Gegensatz dazu lässt unsere heutigen „Happy-Gesellschaft“ nur das Glücklich-Sein zu. Das Unglücklich-Sein ist jedoch ein ganz normaler Teil des Lebens, den wir heute ausklammern. Viele Menschen legen sich eine Maske der Souveränität und Unberührbarkeit zu. Sie zeigen keine Gefühle und oft haben sie auch keinen Kontakt zu ihnen. Daher gibt es wenig Verständnis für Trauerprozesse oder öffentliche Tränen.
Man muss durch die Nacht wandern, wenn man die Morgenröte sehen will. (Khalil Gibran)
Die Themen Krankheit, Alter und Tod werden heute verdrängt… Man versteht ihren Sinn und ihre Bedeutung nicht. Dabei erlangte Buddha, seine Erleuchtung, weil ihn diese drei Aspekte des Leids zutiefst erschütterten. Und er machte sich auf die Suche nach deren Sinn und Überwindung. Da alle Menschen krank werden können, altern und auch sterben, besteht eine menschliche Lern-Aufgabe darin, den Verlust von Gesundheit, Jugend und Leben zu akzeptieren und durch einen Trauerprozess seinen Frieden damit zu machen.
Die östliche Philosophie von Dharma und Karma lehrt außerdem etwas Essentielles: alles hat einen Sinn und ist für unser inneres Wachstum notwendig. Vor allem auch Leid und Unglück, das uns aufrüttelt, nachdenken lässt und auffordert, deren tiefe Bedeutung zu verstehen. Schicksalsschläge und Schwierigkeiten stellen uns auf die Probe.
Auch deshalb ist Trauern so wichtig. Weil wir im Leben immer wieder damit konfrontiert sein werden. Wir werden alle etwas oder jemanden verlieren und schließlich auch das eigene Leben – manchmal früher als gedacht, z.B. durch eine tödliche Krankheit.
Welche „Trauer-Aufgaben“ gibt es?
1. Den Verlust als Realität anerkennen
Der Trauerforscher J. William Worden sagt, dass wir zuerst einmal die Unabänderlichkeit des Verlustes anerkennen müssen, denn oft erleben wir die Situation „wie einen bösen Traum“. Wenn wir das Geschehene klar benennen, hilft es uns, die Tatsache zu realisieren und zu akzeptieren.
2. Den Schmerz durchleben
Unterschiedliche und wechselnde Gefühle kommen auf: Traurigkeit, Verzweiflung, Wut, Angst, Schuld, Einsamkeit, Ohnmacht, … Es ist wichtig, diese zu durchleben, den tiefen Schmerz zuzulassen, damit wir uns der dritten Traueraufgabe widmen können.
3. Die neue Realität akzeptieren
Und das Verlorene als Erinnerung integrieren. Manchmal muss man neue Lebensaufgaben auf sich nehmen und latente Potenziale entfalten. Dies ist eine große Chance, sich weiterzuentwickeln und ein stärkeres Selbstbewusstsein zu gewinnen.
4. Eine neue Identität entwickeln
Einerseits ist es wichtig, uns zu erinnern und die vergangenen Erfahrungen und Erlebnisse zu bewahren. Andererseits ist die veränderte Realität auch ein Aufruf, in ein neues Leben aufzubrechen und sich selbst neu zu definieren. Im alten Indien trennten sich Ehepaare bereits zu Lebzeiten für die letzten Jahre, um sich selbst zu finden.
„Leuchtende Tage, nicht weinen, dass sie vorüber, lächeln, dass sie gewesen sind.“ (Konfuzius)
Neben den Traueraufgaben hat die Psychologie auch mehrere Trauerphasen erforscht. Die Schweizer Psychologin Verena Kast nennt folgende:
1. Trauerphase: Nicht Wahrhaben Wollen
Auf einmal ist alles anders. Man ist verzweifelt, hilf- und ratlos. Man kann und will nicht glauben, was passiert ist. Der Tod hat etwas Überwältigendes, der Schock sitzt tief. Die Tiefe und Länge der Phase hängt von den Umständen des Todes ab, sie kann wenige Stunden bis – vor allem bei plötzlich eingetretenen Todesfällen – mehrere Wochen dauern.
Mögliche Hilfen in dieser Phase:
Trauernde nicht alleine lassen und sie nicht in ihren Reaktionen bevormunden; Wärme und Mitgefühl vermitteln und ev. eigene Gefühle aussprechen; Unterstützung im Alltag; Hilfe bei Regelungen, die im Zusammenhang mit dem Todesfall stehen.
2. Trauerphase: Aufbrechende Emotionen
Leid, Schmerz, Verzweiflung, Wut, Zorn, Freude, Traurigkeit und Angst können auftreten. Man hadert mit dem Schicksal, schreit vielleicht seinen Schmerz heraus, Wut und Zorn entstehen gegen Gott und die Welt. Aber auch gegen den Toten: „Wie konntest du mich nur im Stich lassen?“ Man sollte diese starken Gefühle nicht unterdrücken. Sie helfen dem Trauernden, seinen Schmerz besser zu verarbeiten, werden sie nicht zugelassen, können sie zu Depressionen führen. Diese Phase kann ein paar Wochen bis mehrere Monate dauern.
Mögliche Hilfen in dieser Phase
Gefühlsausbrüche zulassen; nicht von ungelösten Problemen, Schuld und Konflikt ablenken; Schuldgefühle zur Kenntnis nehmen; Anteil nehmen, Da-Sein und Zuhören; Anregungen für alltägliche Hilfen (z.B. Tagebuch schreiben, Malen, Musikhören, Spaziergang, Entspannungsübungen, Bäder, …) geben
3. Trauerphase: Suchen und Sich-Trennen
Es ist typisch menschlich, das zu suchen, was man verloren hat. In der Trauer sucht man nach dem verlorenen Menschen, Objekt oder Lebensgefühl. Man besucht gemeinsame Orte mit Erinnerungswert, Gewohnheiten des Verstorbenen werden übernommen, vielleicht auch Gegenstände oder Kleidungsstücke benützt. Gemeinsame Erlebnisse werden gleichsam als „Edelsteine“ gesammelt. Dies erleichtert die Trauer.
In inneren Zwiegesprächen wird eine Klärung offener Punkte möglich, kann Rat eingeholt werden. Durch diese intensive Auseinandersetzung entsteht oft ein starkes Begegnungsgefühl. Das ist unheimlich schmerzhaft und unendlich schön zugleich. Suizidale Gedanken sind in dieser Phase relativ häufig. Diese Phase kann Wochen, Monate oder Jahre dauern.
Irgendwann entscheidet sich der trauernde Mensch, in ein neues Leben aufzubrechen.
Mögliche Hilfen in dieser Phase
Alle Erlebnisse der Vergangenheit aussprechen lassen; akzeptieren, dass immer wieder in den verschiedensten Formen „gesucht“ wird; Geduld und Zuhören – auch wenn man die Geschichten schon kennt; bei suizidalen Äusserungen kontinuierlich begleiten; kein Drängen auf Akzeptieren des Verlustes; unterstützen bei der Neuorientierung
4. Trauerphase: Neuer Selbst- und Wertebezug
Nach einiger Zeit erkennt der trauernde Mensch, dass das Leben weitergeht und dass er dafür verantwortlich ist. Neue Pläne werden geschmiedet. Er erkennt, dass der Verstorbene Teil des eigenen Lebens bleibt und in den Erinnerungen weiterlebt. Es entsteht eine neue Art der Gemeinschaft, eine Seelenverbindung und irgendwie merkt man, dass man nicht getrennt ist.
Mögliche Hilfen in dieser Phase
Akzeptieren, dass man so nicht mehr gebraucht wird; Veränderungen im Beziehungsnetz des Trauernden begrüßen und unterstützen; Neues akzeptieren und sensibel bleiben für Rückfälle.
„Trauern ist eine gesunde, lebensnotwendige und kreative Reaktion auf Verlust und Trennungsereignisse.“ (Jorgos Canacakis – Trauerforscher)
Sich stärken durch die Polarität des Lebens
Der Schmerz ist unvermeidlich, jeder von uns wird ihn erleben, manchmal sehr unerwartet. Gerade in unserer Welt der Krise gibt es plötzliche Katastrophen und Unglücke. Als Philosophen sollen wir keinen Schuldigen suchen, denn das Leben ist ein Zusammenspiel von Energien. Manchmal gibt es Ereignisse die uns anfangs als schlecht erscheinen und sich dann als vorteilhaft herausstellen. Und dann wieder gibt es Dinge, die uns super vorkommen, um sich danach ins Gegenteil zu verkehren.
Das Leben als Energie zeigt sich durch den positiven und negativen magnetischen Pol. Zwei gleiche Pole stoßen sich ab, es gibt keine Verbindung. Entwicklung und Wachstum jedoch benötigen immer das Zusammenwirken von zwei verschiedenen Energien: Yin und Yang, männlich und weiblich, Tag und Nacht, Einatmen und Ausatmen, Vene und Arterie. Ohne das Wechselspiel dieser beiden Pole sind wir nicht lebensfähig und es gibt keine Fortpflanzung und Entwicklung.
Was bedeutet das nun in Bezug auf Trauer?
Egal, welcher Schicksalsschlag uns ereilt – Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung, Unfall, Tod eines Angehörigen – es ist erst mal eine (scheinbar) negative Energie. Wenn wir daraus stärker hervorgehen wollen, brauchen wir eine positive Haltung. Wir können dem unerwarteten Ereignis mit Offenheit und Neugier begegnen – ohne die Trauer-Aufgaben und Trauer-Phasen zu überspringen oder zu ignorieren. Wir können uns fragen: was will mich das Schicksal lehren? Ein Philosoph weiß ja: alles ist sinnvoll.
Schmerz ist immer eine Gelegenheit, mehr Bewusstsein zu erlangen. Der Entwicklungsweg des Menschen ist durch Leid gekennzeichnet, jeder hat schon erfahren, dass man durch eine gut durchlebte Krise – einen Trauerfall, eine schwere Krankheit, eine Trennung etc. – stärker wird. Und erinnern wir uns daran: Krise bedeutet auch Chance!
Es mag vielleicht seltsam erscheinen, positiv auf negative Ereignisse zu reagieren. Dazu braucht man natürlich die Überzeugung, dass alles im Leben letztendlich sinnvoll ist. Dass es keine Ungerechtigkeit und keine Zufälle gibt. Dass das ganze Leben ein Lern- und Reifungsprozess ist – bis zum allerletzten Atemzug.
Ich selbst habe einige schwere und dunkle Lebenszyklen erlebt und es ist mir immer wieder gelungen – nach Phasen der Entmutigung und Verzweiflung – trotzdem glücklich zu sein. Das ist eine sehr interessante Erfahrung.
Ein praktischer Tipp:
Dies auszuprobieren: eine positive Haltung angesichts (scheinbar erst mal) negativer Ereignisse einnehmen. Probieren sie es aus, es ist ein spannendes Experiment und macht stark!
Trauern Sie sich frei!